Medienmitteilung
Ausnahmen von der Maskenpflicht wurden ungenügend kommuniziert, sagt die UNO
GENF, 4. April 2022 – Letzte Woche hat die UNO festgestellt, dass die Umsetzung der Maskenpflicht in der Schweiz Menschen mit Behinderungen, die keine Maske tragen können, insbesondere Autistinnen und Autisten, diskriminiert hat. Trotz Maskendispens wurden sie vielfach offen angefeindet. Der UNO-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zeigt sich besorgt über "das Fehlen einer proaktiven Antwort auf die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen in Bezug auf COVID-19, einschliesslich mangelnder Informationen für die Öffentlichkeit, die Verkehrsbetriebe und die Medien über Ausnahmen von der Maskenpflicht, was in einer ständigen Verunglimpfung autistischer Personen mit Maskendispens resultierte"[1].
Der Ausschuss empfiehlt der Schweiz sicherzustellen, dass alle COVID-19-Massnahmen behindertengerecht sind, erarbeitet in Kooperation mit Menschen mit einer Vielfalt von Behinderungen, und "dass Informationen zu Pandemie-Massnahmen, einschliesslich Ausnahmen von der Maskenpflicht, der Öffentlichkeit, den zuständigen Behörden und Betrieben und den Medien bekannt gemacht werden". Autistische Menschen wie Dr. Barbara Müller, sehbehinderte Kantonsrätin aus dem Kanton Thurgau mit diagnostiziertem Asperger-Syndrom, sehen sich deshalb gerechtfertigt in ihrer öffentlichen Kritik an der Umsetzung der Maskenpflicht, welche zu vielen leidvollen Situationen für Menschen mit Behinderungen geführt hat.
Autistinnen und Autisten sind besorgt, dass die Aufhebung der nationalen Massnahmen per 1. April die Diskriminierung nicht beendet. Zum Beispiel führt das Schutzkonzept für Arztpraxen des Berufsverbandes der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH (Version vom 18. März) die Maskenpflicht fort, sieht keine Ausnahmen vor und sagt nichts über Menschen, die keine Maske tragen können[2]. Es gibt auch keine rechtliche Grundlage mehr, aufgrund derer private Firmen wie Arztpraxen Maskendispensen akzeptieren, verlangen oder kontrollieren könnten. Menschen mit Behinderungen, die keine Maske tragen können, wird deshalb weiterhin der Zugang zum Gesundheitswesen erschwert oder verweigert. Das verstösst klar gegen die UNO-Behindertenrechtskonvention.
Der Kanton Bern fügte am 30. März seiner "Verordnung über Massnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie (Covid-19 V)" einen neuen Art. 8e2 hinzu: "Die Betreiber von Arztpraxen beachten im Rahmen ihrer betrieblichen Möglichkeiten die Empfehlung, dass alle Personen in den Räumlichkeiten der Praxis Gesichtsmasken tragen."[3] Diese Bestimmung wird als "Maskentragempfehlung" tituliert, liest sich aber wie eine Verpflichtung. Auch hier fehlen Informationen zu Ausnahmen für Menschen mit Behinderungen oder rechtliche Grundlagen für die allfällige Kontrolle von Dispensen. Zudem gibt es keine zeitliche Befristung! Plant der Kanton Bern, Masken in Arztpraxen unbegrenzt beizubehalten?
Der Bund hat scheinbar sein Merkblatt zu Ausnahmen von der Maskenpflicht per 1. April ersatzlos von der Webseite des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) gelöscht, so dass nun auch diese Orientierungshilfe fehlt und sich Menschen mit Behinderungen im Umgang mit kantonal oder privat verhängten Maskenpflichten nicht mehr auf die dort gelisteten Beispiele und Regelungen und das darin erläuterte Diskriminierungsverbot berufen können[4]. Unter anderem fehlen nun klare Regelungen, wer gültige Maskendispensen ausstellen darf. Auch auf der Webseite des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) lässt sich keine Kopie des Merkblatts finden.
Die TopPharm Hirsch-Apotheke in Solothurn verweigerte einem Autisten, der keine Maske tragen kann, die Booster-Impfung auch nach Aufhebung aller nationalen und kantonalen Pandemie-Massnahmen mit der Begründung: "Grundsätzlich besteht bei uns keine Maskenpflicht. Jedoch führen wir die Maskenpflicht in unseren Beratungsräumen weiterhin fort, da dort die Distanz nur schlecht eingehalten werden kann. Aus diesem Grund wäre das Impfen nur mit Maske möglich."[5]
Diese jüngsten Entwicklungen und Erlebnisse zeigen, wie wichtig es war, dass Schweizer Autistinnen und Autisten im März aktiv an der Prüfung der Schweiz durch den UNO-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen teilnahmen. Informationen wurden dem Ausschuss schriftlich vorgelegt durch Autistic Minority International, eine von autistischen Selbstvertreter(inne)n geführte Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Genf[6], sowie mündlich in vertraulichen Anhörungen mit Ausschuss-Mitgliedern. Viele Anliegen autistischer Schweizerinnen und Schweizer fanden berechtigten Eingang in die "Concluding Observations" des Ausschusses – Empfehlungen zur Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention (BRK) an die Regierungen, Parlamente und Behörden von Bund, Kantonen und Gemeinden.
Rückfragen bevorzugt schriftlich: Erich Kofmel, e.kofmel@autisticminority.ch
Eine betroffene Autistin aus dem Kanton Zürich, die keine Maske tragen kann und deshalb ihren Job verloren hat, steht für Interviews zur Verfügung. Kontakt auf Anfrage.
Telefonische Rückfragen: Dr. Barbara Müller, 00977 98 43 269 699 (zurzeit in Nepal, daher zeitnahe Antwort unsicher; nicht erreichbar 19. April bis 10. Mai)
[1] https://tbinternet.ohchr.org/Treaties/CRPD/Shared%20Documents/CHE/CRPD_C_CHE_CO_1_48261_E.docx (Abs. 23(c) und 24(c))
[2] https://www.fmh.ch/files/pdf23/schutzkonzept.pdf
[5] Persönliche E-Mail an Erich Kofmel (President, Autistic Minority International) vom 2. April 2022
[6] https://tbinternet.ohchr.org/Treaties/CRPD/Shared%20Documents/CHE/INT_CRPD_CSS_CHE_47971_E.docx